Epilog
Die Fahrt im Zug verläuft leise. Ich sitze die ganze Zeit allein in meinem Abteil. Zuhause in Distrikt 12 gibt es keine Feier, die Menschen haben besseres zu tun als sich um irgendwelche Sieger zu kümmern, die sie nicht mal kennen. Ich bin etwas enttäuscht darüber, das nicht mal meine Familie gekommen ist. Friedenswächter eskortieren mich bis zum Händlerviertel. Noch immer warte ich auf ein Zeichen von Snow, aber es passiert nichts. Keiner der Friedenswächter erschießt mich. Meine Zunge ist an Ort und Stelle, ich bin kein Avox geworden. Vielleicht verzichtet er auf Rache, um sich peinliche Fragen von meinen Fans im Kapitol zu ersparen. Tut er das wirklich? Wir in Distrikt 12 haben abgesehen von mir nur einen Sieger der Hungerspiele, Rummage Lorman. Der hat die Hungerspiele ganz brav und nach den Regeln des Kapitols gewonnen. Aber es gibt Gerüchte. Tribute die aus den Augen des Kapitols geschummelt haben sollen verschwunden sein. Wieso sollte es bei mir anders sein? Unter meinem Fuß knackt es. Ich blicke nach unten, es ist eine kleine Plastik Puppe, sie liegt beschmiert mit Ruß und Asche auf dem Boden. Verdreckt und einsam. Eine Puppe für Kinder. Geert hatte mal so eine gehabt. Geert… Mutter… Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Nicht ich würde für meine Taten bezahlen, sondern die die ich liebe. Ich sprinte panisch die letzten paar Meter nachhause. Und öffne mit zitternden Fingern die Wohnungstür. Es scheint Ewigkeiten zu dauern, bis ich die Tür aufkriege. Die Wohnung ist leer. Keine Mutter. Kein Geert. Nicht mal die Möbel sind noch im Haus. Ich verlasse das Haus wieder, vielleicht sind sie schon ins Dorf der Sieger umgezogen. Ich presche die Straße zum Dorf der Sieger entlang. Ich beachte nichts mehr. Nicht den schadenfrohen Blick einiger Friedenswächter, nicht die mitleidigen Blicke meiner Nachbarn, nicht mein schmerzendes verstauchtes Bein. Das Dorf ist wie erwartete leer. Keine Mutter. Kein Geert. Niedergeschlagen gehe ich zurück. Auf dem Weg nachhause halte ich plötzlich inne. Ein Friedenswächter steht am Rand der Straße. Es gibt keinen ersichtlichen Grund, er steht einfach nur da. Dann wird mir klar, dass er mich beobachtet. Er weiß wen ich suche. Er weiß wieso. Ich springe ihn an. Ehe er sein Gewehr ziehen kann, habe ich ihn auf den Boden geworfen und sein Messer in den Händen. Ein klobiges, einfaches Messer. Wie schon so viele Male in den Spielen halte ich es in den Händen, ich spüre den Drang den Friedenswächter zu töten. In meinem geistigen Auge sehe ich wie sein Blut den Boden befleckt. „Wenn habt ihr alles mitgenommen?“, brülle ich ihn an. Der Friedenswächter zögert. Ich setze das Messer an seinen Hals. „Schon gut!“, keucht er. „Reg dich ab.“ „Ich soll mich abregen? Ich? Ihre kleinen ehrenlosen Schweine aus eurem elenden Kapitol habt meine Familie getötet und mich gezwungen andere, unschuldige Kinder zu töten, ich soll mich beruhigen? Wen verdammt nochmal habt ihr alles mitgenommen?“, schreie ich ihn an. „Deine Mutter, deinen Bruder und dieses Mädchen!“, brüllt auch er. Er hat ernsthaft Angst um sein Leben. Als ich wieder in dem Händlerviertel bin, liegt ein Friedenswächter mit aufgeschlitzter Kehle auf der Straße zwischen dem Saum und dem Dorf der Sieger.
Obwohl ich weiß, was ich vorfinden werde renne ich zu Sarahs Haus. Ich stoße die Tür auf, das Haus ist wie erwartet leer. Nur ein kleiner weißer Tisch steht im Raum. Darauf steht ein Schachspiel. Ich stutze, es ist nicht Sahras Spiel. Die Figuren sind viel schöner und edler als ihre. Sie scheinen mitten in einer Partie erstarrt zu sein. Ich sehe mir die Situation genauer an. Weiß ist eindeutig am Gewinnen. Die schwarze Dame ist geschlagen, ebenso ein Schwarzer Bauer, ein Turm und zwei Läufer. Der Schwarze König ist bedroht, gehetzt und kurz vor dem Verlieren. Der weiße König dagegen steht triumphierend in der Mitte, umringt von seinen Untertanen. Ich stutze wieder. Das kann keine Partie gewesen sein, mehrere Figuren stehen an Plätzen, an denen sie laut den regulären Spielregeln gar nicht stehen können. Als ich den süßlichen Duft von Rosen rieche verstehe ich…
Das ist eine Partie, allerdings keine Schachpartie. Es ist eine Partie zwischen mir und Präsident Snow. Der bedrohte König bin ich, der schwarze kleine Bauer Geert, die Dame ist Mutter und die Läufer sollen Maysilee und Sarah darstellen. Der weiße König ist Snow, triumphierend mitten im Schlachtfeld. Ich rolle mich auf dem Boden zusammen und heule. Krämpfe durchschütteln meinen Körper. Das war also Snows Art mich wegen der Sache mit dem Kraftfeld zu bestrafen. Eine leise, grausame Art. Wie die einer Schlange. Mein Pulz rast wie wild. Ich fege die Figuren vom Tisch und schmettere den weißen König mit aller Kraft gegen die Wand. Er zerbricht nicht. Am Rand des Schachbretts steht etwas. Wie hypnotisiert lese ich:
„Snow landet immer oben.“